Ein positives Gefühl der Vorfreude hatte seit geraumer Zeit von ihm Besitz ergriffen. Seitdem er die Rolle erhalten hatte, freute sich Ben auf diesen neuen Film. Er hatte es kaum erwarten können, das Skript in den Händen zu halten und zu studieren. Und obwohl er sich einzureden versuchte, dass das hier nur ein Job war, so war es doch auch sein Leben – und vielleicht sogar auch seine Berufung, so übertrieben sich das nun anhörte. Das einzige Problem bestand darin, dass er absolut keine Ahnung hatte, was ihn erwartete. Ihm war – neben einem Datum und der Uhrzeit - lediglich die Adresse eines Hotels, in dem er für einige Zeit unterkommen sollte, genannt worden. In dem Glauben, erst einmal einzuchecken und seinen Jetlag auskurieren zu können, wurde er vergleichsweise schnell eines Besseren belehrt: schon an der Rezeption des Hotels wurde ihm ein Zettel in die Hand gedrückt, auf dem fein säuberlich eine Zimmernummer geschrieben stand. Hatte er schon am heutigen Tag ein Treffen mit dem Regisseur? Oder wollte der Produzent ihn sehen? Ben wusste nicht, wer seine Kollegen für diesen Film waren, und er schien wohl zu glauben, dies erst in den kommenden Tagen zu erfahren. Bevor er sich aber zu dem genannten Zimmer aufmachte, brachte er erst einmal das Gepäck auf sein eigenes Zimmer. Er stahl sich sogar noch ein, zwei Minuten, um sich ein wenig frisch zu machen und sich für einen vagen Augenblick – der, seiner Meinung nach, ruhig hätte länger sein können – auf das zuvor noch unangetastete Bett zu legen. Ein Fehler, wie sich relativ schnell herausstellte, denn er wollte gar nicht mehr aufstehen.
Woher Ben letztendlich die Kraft nahm, um doch wieder aufzustehen, wusste er nicht. Er hatte auch keine Ahnung, wie seine Füße ihn aus dem Zimmer hinaus und über den Flur zu der besagten Zimmernummer geführt hatten. Irgendwann stand er aber vor genau dieser Türe, den Zettel in der Hosentasche seines Jeans verstauend. Er straffte noch einmal die Schultern und zupfte den Pullover zurecht, als er schließlich die Hand hob und gegen die Türe klopfte – zunächst ein wenig zaghaft, dann aber ein wenig fester. Er wusste nicht, was er erwarten sollte, was ihn nervös machte und das Gefühl der Vorfreude mehr und mehr in den Hintergrund drängte. Er verlagerte das Körpergewicht auf den anderen Fuß. Sekunden schienen zu Minuten zu werden, wenn nicht sogar zu Stunden. Als sich die Türe dann öffnete und Ben erkannte, wer dort stand, brachte er im ersten Moment kein Ton heraus. Er ging sogar einen Schritt zurück, sich im gleichen Atemzug fest in den Unterarm zwickend, wohl in der stillen Erkenntnis, sich in einem Traum zu befinden. „Du?“, murmelte er. Unglauben spiegelte sich in seinem Blick. Die Begrüßung war vielleicht nicht unbedingt die, die sie beide erwartet hatten, doch in diesem Augenblick konnte Ben nicht anders, als Anna überrascht anzusehen. Sein Mund öffnete sich, als wollte er noch etwas sagen, aber er schloss sich unverrichteter Dinge wieder. Er hatte nicht geglaubt, Anna hier und jetzt wiederzusehen.
"Ja, Mama, ich passe schon auf mich auf. Ich bin ja nicht das erste Mal in Los Angeles." Sie verdrehte die Augen und fixierte ihren rechten Zehennagel. Sie war gerade dabei, sich die Zehen zu lackieren, einfach weil es sie runter brachte und sie dabei entspannte. Es war nicht so, dass es etwas war, an dem sie viel Freude hatte, denn sie liebte ihre bequemen Chucks und Turnschuhe viel zu sehr um ständig in offenen Schuhe herumzulaufen um ihre Fußnägel zu präsentieren. "Hmhm, ich werde es ihm ausrichten, wenn wir uns treffen." Ihre Mutter hatte vorhin angerufen und kaute ihr nun ein Ohr ab. Gerade ging es um Will. William Moseley. Ihre Mam hätte gerne gesehen, dass sie mit ihm eine Beziehung einging, aber das war lächerlich. Will war ihr bester Freund, ihr Soulmate und somit die wichtigste Person, abgesehen von ihrer Familie, in ihrem Leben und irgendwann, wenn der Richtige vorbei kämme, dann müsste er sich diesen Platz mit ihm teilen. Seufzend drückte sie einen Kuss in ihr heißgeliebtes iPhone und verabschiedete ihre Mam. "Lass uns später noch mal über Skype reden. Ich würde Paps gerne sehen. Außerdem wird das Gespräch doch viel zu teuer. Ich liebe dich Mom!" Sie drückte auf den roten Hörer und schmiss das Handy auf das ungemachte Bett. Sie hasste Zimmerservice und verzichtete seit einem wirklichen Desaster in einem dieser Schicki-Micki Hotels an der Ostküste auf diesen Service. Sollte sie die rechte Seite auch noch lackieren? Sie wackelte mit den Zehen und schraubte gerade das Fläschchen mit dem krebsroten Nagellack wieder auf, als es an ihrer Zimmertüre klopfte. Nanu? Sie blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Zehn Uhr am Vormittag. Wer war das denn? Sie hatte doch extra das Schild mit der Bitte nicht stören Aufschrift raus gehängt. Dann klopfte es noch einmal. Diesmal fester, sicherer und mit einem Seufzen stand sie auf und bewegte sich zu Tür. "Sagen Sie mal, können Sie nicht le..." Als sie den Blick hob, kniff sie sich in den Arm. Träumte sie, oder stand da gerade wirklich ... "Aua!" entfuhr ihr leise. Sie träumte nicht. Definitiv nicht. Vor ihrer Zimmertür stand wirklich Benjamin Thomas Barnes. "Was willst du hier?" Die hübsche Britin war sauer auf ihren Ehemaligen Drehkollegen. Doch war sie nicht selbst auch mit dran Schuld, dass der Kontakt abbrach? Hätte sie sich nicht auch melden können? Dabei hatten sie sich doch echt gut verstanden damals und der Kontakt war auch noch eine ganze Weile bestehen geblieben und wo standen sie heute? Mal eine Nachricht zum Geburtstag oder an den Feiertagen, doch ansonsten ... Funkstille. Und jetzt stand er auf einmal vor ihrem Hotelzimmer.
Er hatte mit allem gerechnet. Die eigene Phantasie war recht groß, doch dass er ausgerechnet seiner ehemaligen Filmkollegin Anna hier begegnen würde, das raubte ihm doch schlichtweg den Atem – und übrigens auch die Sprache, denn er bekam kein Wort heraus. Er hatte zwar den peinlichen Moment, sie mit offenem Mund anzustarren, überstanden, doch das hatte er vielmehr seinen Reflexen, als seinem klaren Verstand zu verdanken. Dieser funktionierte nämlich nicht so ganz. Ben widerstand dem Drang, sich in den Unterarm zu kneifen, um zu überprüfen, ob das hier nun Traum oder Wirklichkeit war. Er konnte nur erahnen, dass Anna ähnliches durch den Kopf ging, doch sie schien sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn er vernahm den leisen Klagelaut. „Ich hab das Schild nicht gesehen“, meinte er prompt, als sein Kopf und somit sein Blick sich senkte. Er sah fast reumütig aus, so wie er dastand, was aber keineswegs als Entschuldigung gelten sollte. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass der Kontakt zwischen Anna und ihm seit geraumer Zeit nicht mehr bestand. Wer nun genau Schuld daran trug, darüber wollte er nicht nachdenken. Vermutlich waren sie beide zu beschäftigt gewesen, um sich bei dem jeweils anderen zu melden. Ben konnte nicht leugnen, dass er öfter an Anna gedacht hatte, dies aber nicht als Ansporn genommen hatte, sich bei ihr zu melden. Es wäre einfach gewesen, denn er hatte noch immer ihre Nummer gespeichert. Damals hatte die Chemie zwischen ihnen gestimmt, das konnte niemand leugnen.
„Dich besuchen?“ Mit diesen Worten wagte er wohl eine versteckte Entschuldigung. Er räusperte sich leise, als er nun endlich wieder den Kopf hob und zu Anna hinübersah. „Man gab mir diesen Zettel, als ich eingecheckt habe.“ Er streckte die Hand nach vorne, in der sich der besagte Notizzettel befand. Aus irgendeinem Grund hatte er diesen mitgenommen; vielleicht hatte er geglaubt, die Zimmernummer bis hierher zu vergessen. „Ich sollte mich hier melden. Sozusagen“, fügte er, etwas leiser werdend, hinzu. Eigentlich war er doch ein selbstbewusster Mensch; gerade jetzt erinnerte er aber an ein Häufchen Elend, dem just bewusst wurde, was er in der Vergangenheit alles falsch gemacht hatte. „Also, hör mal ...“, begann er. Fehlte nur noch, dass er sich verlegen am Hinterkopf kratzte, was er aber verhindern konnte. „Ich wollte dich nicht aufschrecken und von irgendetwas abhalten. Vielleicht liegt hier ein Irrtum vor ...“ Die Hoffnung war aber schwindend gering. Wie nur konnte er das wieder gutmachen, was er in der zurückliegenden Zeit verbockt hatte?
Das konnte einfach nicht wahr sein. Was tat er hier, weshalb gerade jetzt? Sie war damals so verknallt in Ben gewesen, dass sie lange brauchte, um über ihn hinweg zu kommen und jetzt stand er hier, vor ihrer Hotelzimmertür und starrte sie ähnlich verdattert an, wie sie ihn. Doch im Gegensatz zu ihr, bekam er kein Wort heraus. "Hallo? Redest du mit mir, oder hat es dir so sehr die Sprache verschlagen?" Sie grinste leicht und schüttelte den Kopf. Es war nicht so, dass sie unbedingt mit ihm Konversation treiben wollte, doch es war jetzt nur mal so, dass er vor ihrer Zimmertüre stand und anscheinend hatte selbst er keine Ahnung, weshalb er gerade vor ihr stand. "Schild nicht gesehen? Das ist doch auffallend rot und sticht sofort ins Auge." spottete sie. Es war nicht richtig, dass er jetzt da stand. Und sie Volltrottel konnte ihm nicht einmal wirklich böse sein und das ärgerte sie gerade. Es war einfach so, dass er ihr mal sehr sehr wichtig war und dann, dann hatte er sich immer weniger gemeldet, sie hatten sich nicht mehr getroffen und das ärgerte sie. Wer war er, dass er sich so etwas mit ihr erlauben durfte? Sein etwas zögerliches "Dich besuchen?" ließ sie trocken auf schnauben. "Wir haben ewig und drei Tage keinen Kontakt mehr und dann kommst du auf die Idee, Hey, Anna ist in der Stadt, geh ich sie mal besuchen... Hast du sie noch alle beisammen?" Als er ihr den Zettel entgegen streckte, wurden ihre Augen groß und sie starrte ihn entgeistert an. "Du? Du bist mein neuer Drehpartner?" Entsetzt riss sie ihm den Zettel aus der Hand. "Tatsache... Oh man..." Sie strich sich ihre Haare zurück und räusperte sich. "Da liegt definitiv kein Irrtum vor, so gern ich das jetzt auch hätte. Der Zettel ist von mir selbst, ich hab ihn unten abgegeben, mit der Bitte, ihn demjenigen zu geben, der unter der Produktionsfirma eincheckt... und das warst anscheinend du... die anderen Castmitglieder kommen erst nächste Woche, deshalb muss es stimmen." Sie seufzte. "Oh man, ausgerechnet du. Ausgerechnet wir beide." Es schmeckte ihr nicht, aber anscheinend musste sie nun in den sauren Apfel beißen und sich mit Ben auseinandersetzen, ob sie nun wollte oder nicht. Ergeben zuckte sie mit den Schultern. "Willst du reinkommen? Ist nur nicht sonderlich aufgeräumt ... ich hasse Zimmerservice noch immer..."
Ein Irrtum. Das wäre ihm nun eindeutig recht gewesen. Nicht, dass er Anna nicht mochte – ganz im Gegenteil! Aber er ahnte bereits, dass die Funkstille, die zwischen ihnen beiden geherrscht hatte, nun zur Sprache kommen würde. Er konnte sich mit allerhand Dingen herausreden: Stress, Familie, Arbeit. Das waren wohl die drei triftigsten Gründe, nicht einmal zum Handy zu greifen und sich bei einer guten Freundin zu melden. Doch genau das konnte und wollte er Anna nicht sagen. Diese Standardaussagen hatte sie einfach nicht verdient! Also rettete er sich damit, höchst überrascht dreinzublicken und vor sich her zu starren. Dass ihr Zusammentreffen kein Irrtum war, wusste er spätestens dann, als Anna ihm den Zettel aus der Hand riss und seine böse Vorahnung bestätigte – und das lautstark. Die Worte hatten einen seltsamen Nachklang und einen noch bitteren Nachgeschmack. Ben schluckte schwer, als er zwischen Anna und dem Zettel hin und hersah. Er fühlte sich überrumpelt. Er hatte mit jedem gerechnet, nur nicht mit Anna, einer Freundin aus der Vergangenheit. Warum hatte er sich eigentlich nie wieder bei ihr gemeldet? Er wusste selbst, dass es nicht an jenen drei Dingen gelegen hatte, über die er bereits nachgedacht hatte. All jene Worte, die sie ihm gegenüber fallen ließ, trafen mitten in sein Herz und hinterließen tiefe Wunden. Doch wie sehr hatte sein Schweigen wohl geschmerzt, als er sich einfach nicht mehr bei ihr gemeldet hatte? Er wusste es nicht. Er befand sich auch sicherlich nicht in der Position, näher nachzufragen. „Farbenblind“, murmelte er nur, mit einem schwachen Nicken in Richtung des auffällig roten Schildes. Natürlich besaß er eine derartige Schwäche nicht, das wusste Anna ebenso gut wie er selbst. Doch was sollte er sonst sagen?
„Ich denke schon. Zumindest bin ich nicht auf den Kopf gefallen oder irgendwo gegen gelaufen“, überlegte er laut, als er sich in ein schwaches Schulterzucken rettete. All seine Worte kamen verspätet über seine Lippen, weshalb sie seltsam fehl am Platz wirkten. Er musste erst einmal verdauen, was Anne ihm da gerade offenbart hatte. „Du hättest also lieber einen anderen Drehpartner.“ Aus irgendeinem Grund klang er leicht angesäuert. Er konnte sie verstehen, ja! Aber warum waren Frauen immer so verdammt nachtragend? „Ich kann auch noch absagen - so ist das nicht.“ Nicht, dass er das wollte. Aber wie sollte eine solche Zusammenarbeit funktionieren, wenn sie zurzeit nur einseitig bestand? Anna schien sich ganz und gar nicht mit dem Gedanken anfreunden zu können, nun wieder mit ihm zusammenzuarbeiten. Dabei waren ihre in der Vergangenheit liegenden Dreharbeiten immer recht lustig und unterhaltsam gewesen. Ben hatte Tomaten auf den Augen und erkannte den wahren Grund dahinter nicht – oder wollte diesen nicht erkennen. „Du musst jetzt nicht nett zu mir sein, nur, weil wir zusammen an einem Film arbeiten“, bemerkte er trocken und sah sie zum ersten Mal so richtig an. „Wenn dir meine Anwesenheit so unangenehm ist, kann ich den Rest des Tages auch auf meinem Zimmer verbringen. Du musst noch früh genug mit meiner Nähe konfrontiert werden ...“ Traurig, was aus den beiden geworden war – und das Schlimmste an der Geschichte ist wohl, dass Ben hierfür die Verantwortung trägt.